Forschungsforum Lukács im Kontext (FLK) - Kritisches Denken im Ungarn des 20. Jahrhunderts
Ziel der FLK ist die Erschließung und neue Kontextualisierung des Werkes des ungarischen Philosophen György Lukács und seines intellektuellen Umfeldes in Ungarn, Österreich, Deutschland und in Europa.
Zu nennen sind hier der Budapester Sonntagskreis, dem unter anderem so wichtige und einflussreiche Persönlichkeiten wie Károly Mannheim und Béla Balázs angehörten, das deutsche Umfeld in der Zwischenkriegszeit bis 1933 und nach 1945, Intellektuelle in Österreich wie Günter Anders, Günther Nenning oder Ernst Fischer sowie der innerungarische kulturpolitische Diskurs in der kommunistischen Ära vor und nach 1956 und das Entstehen der sog. Budapester Schule (Vajda, Heller, Fehér, Márkus).
Den Ausgangspunkt unseres Arbeitens bilden dabei die archivarischen Materialien in der Bibliothek der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest; dazu gehören neben dem Lukács-Archiv auch benachbarte Archive anderer repräsentativer ungarischer Denker und Denkerinnen, und das sich daraus ergebende Netzwerk von intellektuellen Bindungen und Beziehungen, die zum Teil bis ins Anfang des 20. Jahrhunderts zurückreichen.
Die Rezeption des Werkes von Lukács ist durch starke Einbrüche charakterisiert. War Lukács insbesondere in der Weimarer Republik durch Werke wie die Theorie des Romans (1916) aber auch im Exil durch sein nicht unumstrittenes Plädoyer für eine realistische Literatur (Expressionismus-Debatte), eine weithin vernehmbare Stimme, so war die Rezeption seines Werkes in den ersten Nachkriegsjahrzehnten durch die Polaritäten des Kalten Krieges sowie durch die internen Auseinandersetzungen des kommunistischen Ungarns beeinträchtigt.
Erst im Diskurs mit den Neuen Linken erfuhr Lukács (hier vor allem sein Frühwerk) sowohl im Westen als auch in Ungarn (Budapester Schule) eine Renaissance, was sich in den zahlreichen Korrespondenzen mit (westeuropäischen) Intellektuellen und Verlegern nachverfolgen lässt. Bereits zu Ende der 1980er Jahre ist ein Rückgang der Aufmerksamkeit für sein Werk in seinem Heimatland wie auch im Ausland zu konstatieren.
Die Erschließung von Person und Werk ist lückenhaft geblieben. Die FLK möchte zusammen mit anderen Einrichtungen einen Beitrag leisten, diese Lücken zu schließen, etwa durch die Bearbeitung, Sichtung und Kommentierung von Korrespondenzen aus den entsprechenden Nachlässen. Relevante Fragen sind dabei Lukács‘ kulturpolitische Rolle im sozialistischen Ungarn, seine Bezüge zu Dissidentinnen und Dissidenten sowie sein Verhältnis zu linken Intellektuellen im Westen. Die Aufarbeitung des archivarischen Materials kann und soll aber auch neues Licht auf den Wandel, die Veränderungen und Modifikationen von Lukács´ philosophischen, politischen und intellektuellen Positionen werfen.
Der Begriff des ‚Kontextes‘ kann in einem doppelten Sinn verstanden werden, zum einen als Verweis auf das jeweilige historische, kulturelle und politische Umfeld, dessen Teil Lukács und sein Werk war und von dem es zugleich bestimmt gewesen ist, zum anderen aber auch die Notwendigkeit, Lukács heute aus einer anderen Perspektive zu lesen, die sich, wie das Nachwort der amerikanischen Theoretikerin Judith Butler zu Die Seele und die Formen zeigt, gravierend von jenen der 1970er und 1980er Jahre unterscheidet.
Lukács kann heute als eine exemplarische Figur des kurzen 20. Jahrhunderts (Hobsbawm) und der vergangenen Zukunft des ‚realen Sozialismus‘, aber auch als eine starke Stimme jener ungarischen Intellektuellen gelesen und verstanden werden, die man in Analogie zur Wiener Moderne als Budapester Moderne bezeichnen kann, deren bekanntesten ‚Medien‘ der Budapester Sonntagskreis sowie Zeitschriften wie Nyugat, Huszadik Század und Szabadgondolat gewesen sind. Kulturwissenschaftlich relevant sind aber auch das Phänomen der Migration, die stets eine doppelte ist, eine der Menschen und eine der Ideen und Werke.
Das FLK plant im Hinblick auf dieses ambitionierte Arbeitsprogramm Tagungen, Workshops, Forschungsprojekte sowie Lehrveranstaltungen. Ein besonderes Anliegen ist uns die Vernetzung und die Gewinnung einer jungen Generation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für ein Themenfeld, das nach wie vor bis in unsere Tage hinein nachwirkt.
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